Die Stimme, die diesen Ruf an einem Sonntagabend des Jahres 1967 um ca. 18:30 h über den oberen Teil des Hauptplatzes von Deutschlandsberg erschallen ließ, gehörte Karoline Weitlaner (nicht nur damals im Umkreis von mindestens 100 km besser als "Tante Lina" bekannt).
Und der Bua, von
dessen Geburt die zeit ihres Lebens kinderlos gebliebene Konditorin jedem, der
es wissen wollte oder auch nicht, kund tat, war - ich.
Mein
Verwandtschaftsverhältnis zu ihr war ähnlich genetisch bedingt wie das von vielen
anderen Deutschlandsbergern und Deutschlandsbergerinnen - sie hatte mich
einfach ins Herz geschlossen.
Im Falle unserer
Familie ging die Bindung aber etwas tiefer: Schließlich arbeitete meine Tante
Maria schon viele Jahre als Serviererin in der Konditorei, die vom
Geschwisterpaar Karoline und August jahrzehntelang lang geführt wurde.
Tante Lina führte
ein sehr strenges Regiment:
Oft wurde man
Ohrenzeuge eines Telefonats ungefähr folgenden Inhalts: "Weitlaner, wer
spricht?" [...] "Das interessiert mich nicht, wenn Sie Ihren Namen
nicht sagen!" (gefolgt von grußlosem Aufhängen).
Auch mit Gästen,
oder genauer: solchen, die es werden wollten, machte Lina oft kurzen Prozess: So
etwa, wenn ein junger Mann im Sommer eislos wieder gehen musste, nicht ohne
vorher den Rat "Gehen Sie vorher zum Friseur, dann können Sie
wiederkommen" mit auf den Weg genommen zu haben. Eine statistische Ergebung,
welcher Anteil der so Beratschlagten dann wirklich wieder/noch als Kunde
gewonnen werden konnte, ist mir nicht bekannt.
Sollten personae
non gratae es aber bis zu den Tischen oder in den Gastgarten geschafft haben,
war außer einem temporären Sitzplatz nicht viel gewonnen - mir ist kein Fall
bekannt, dass es ein hoffnungsfroher aber nonkonformistischer Gast es mit dem
Warten länger ausgehalten hätte als Tante Lina mit dem Ignorieren.
Aus zuverlässiger
Quelle (danke, G.T.) stammt auch die Anekdote, dass Tante Lina eines Tages eine
Siphonflasche als Wasserwerfer zweckentfremdete um einen rebellischen Jugendlichen
aus dem Lokal zu entfernen und bis auf die Straße zu verfolgen - wo dieser ihr
jedoch das Gerät entwand und sie mit gleicher Münze zur Rückkehr in die
Konditorei motivierte.
Besuche bei
Weitlaners waren den Eltern bisweilen etwas peinlich, denn der Wert der in
großen, strapazierfähigen Papiertragetaschen für die Kinder verstauten und
verschenkten Süßigkeiten übertraf der Wert der Konsumation oft ungeschaut um
ein Vielfaches.
In unserem
konkreten Fall konnten meine Eltern das wenigstens teilweise kompensieren:
Mit dem, was man heutzutage ein
glückliches Biohendl nennen würde (und von denen meine Mutter vor Weihnachten
so jeweils ein halbes Dutzend im Freien bei Kälte geschlachtet, gerupft und
anschließend sauber drapiert an Verwandte und Bekannte, wie eben auch die Familie
Weitlaner, verschenkt hat).
Oder mit großen Stücken von aus der
Hausschlachtung stammendem, am Dachboden geselchtem mageren Mulbratls.
Oder später mit ein paar Kisten liebevoll aufgezogener Pfirsiche der Größen AA
- AAA.
Die politische äußerst
rechte Ausrichtung von Tante Lina war damals auch für einen Volksschüler bzw.
Hauptschüler unschwer zu erahnen - und das nicht nur wegen der Fotos ihrer
beiden Brüder Walter und August in Wehrmachtsuniformen (Letzterer war, wenn ich
mich richtig erinnere, Kampfpilot im 2. Weltkrieg).
Ein Bild von Jörg Haider stand ebenfalls
alsbald im kreuzbefreiten Herrgottswinkel und mit ihrer Meinung über die Roten
hielt sie nicht hinter den Berg. Dass es deshalb zwischen ihr und zum Beispiel
meinem sagen wir mal in solchen Dingen sehr disputationsfreudigen Vater nie zu
gröberen verbalen Wickeln kam, wundert mich immer noch, ist aber auch
vielleicht nur meinem Gedächtnis entfallen.
Die Eckbank in der
Küche der Konditorei in einem anderen Gebäudeteil war ein ähnlicher sozialer Schmelztiegel
wie der Würstelstand vor der Wiener Oper: Hier saßen und diskutierten Ärzte,
Lehrer, Notare, Rechtsanwälte, Arbeiter und Kleinlandwirte, Bürgermeister und
Gemeinderäte, Hof- und Regierungsräte etc. pp.
Während Kaffee
getrunken und Mehlspeisen verzehrt wurden oder im Sommer das eine oder andere
Eis in den Bäuchen von Erwachsenen und Kindern verschwand, wurde (natürlich mit
der Hand) Geschirr gewaschen und Kaffee gekocht.
Die „Kaffeemaschine“
war dabei von durchaus beeindruckender Dimension:
Es handelte sich um einen gesetzten
Herd mit Eisenherdplatte, auf dem der Kaffee „aufgestellt“ wurde. Wobei auf
nicht unbedingt die korrekte Präposition ist: Solche Herdplatten hatten
Öffnungen, die mit konischen Ringen verschlossen wurden - oder eben durch das
Entfernen eines oder mehrerer Ringe einem Topf, einer Kasserolle oder einem Reindl
bis ungefähr zu einem Drittel bis zur Hälfte der Höhe Platz boten. Das Geschirr
war somit halb pechschwarz und halb glänzend silber poliert.
An die Küche und
mit dieser ganz modern durch ein Haustelefon verbunden schloss die Backstube an
- das uneingeschränkte Reich von Onkel Gusti (August Weitlaner), einem Konditormeister
mit Leib und Seele.
Die wuchtigen Maschinen aus Gusseisen,
riesige Töpfe und Knet- oder Rührhaken, all das wurde über ein System von
Holzrädern, die an einer knapp unter der Decke durch mehrere Räume führende
Eisenstange montiert waren, unter Verwendung von Lederriemen angetrieben. Der
Elektromotor selbst befand sich in einem anderen Raum, die Geschwindigkeit der
Antriebe wurde durch das entsprechende Wissen, welcher Riemen welche Räder
verbindet, reguliert.
Einen besseren
Anschauungsunterricht zu Antriebstechnik konnte es kaum geben.
Aber vor allem:
Der Geruch! Nach Backwaren, Gewürzen, Mehlspeisen jedweder Art. Ich bin mir
sicher, das hat sich bei Hunderten Kindern und Erwachsenen ins kollektive
genetische Gedächtnis gefressen und wird noch deren
Nach-Nachkommen olfaktorische Déjà-vu-Erlebnisse bescheren, ob deren
Quellenerforschung sie in den süßen Wahnsinn getrieben werden.
Ein Schmuckstück
war der Gastgarten, ein nicht allzu breiter, aber langgezogener Bereich mit
allen möglichen Pflanzen, die ich damals aber mangels Wissens viel zu wenig
gewürdigt habe. So ein kleiner botanischer Garten hätte eigentlich unter Naturschutz
gestellt werden müssen.
Neben üblichem, heimischen Getier
und Gekreuche und Gefleuche gab es dort schon seit Jahr und Tag eine Reihe von
Schildkröten, über deren Schicksal nach dem Ableben von August Weitlaner und
vor allem nach der Pflegebedürftigkeit von Karoline Weitlaner mir leider nichts
bekannt ist.
Karoline und
August Weitlaner sowie das Personal waren eine Art große Familie und
Wohngemeinschaft. Die Maria (meine später ehebedingt aus dem Betrieb
ausgeschiedene und in eine andere Stadt gezogene Tante), sowie "die
Julerl" (die ihr ganzes Berufsleben bei den Weitlaners war) aber auch
"die Christerl" (als Verkleinerungsform von "Christa")
hatten nicht nur Wohnungen im weitläufigen Gebäude, es gab auch immer wieder
gemeinsame Freizeitaktivitäten:
So bildeten neben ausgedehnten
Almwanderungen auch nach Weihnachten lange Spaziergänge des Großteils der
"Familie" (Tante Lina hielt in der Konditorei die Stellung) und damit
Besuche bei uns ein übliches Ritual, wobei die kindliche Freude über
Süßigkeiten die klamme Furcht vor Onkel Gustis klar spürbaren Zwickerbussis
eindeutig übertraf.
Die Konditorei war
einrichtungsmäßig von der Zeit einfach einmal irgendwann in den vierziger oder
fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts im vorigen Jahrtausend
vergessen worden - nur dass im Gegensatz zu vergessenen Kindern und Hunden auf
Autobahnraststätten niemand gekommen ist, um sie ab- und nachzuholen.
Generationen von
Regisseuren sollten sich ob der verpassten Gelegenheit, hier ohne notwendige
Umbauten Filme drehen zu können, je nach Gelenkigkeit die Haare raufen oder in
bestimmte Körperteile beißen.
Ich bin ganz
gespannt, was die neuen Eigentümer der Immobilie daraus machen bzw. gemacht
haben, was vom Bestand hoffentlich in die neuen Büro- und Geschäftsräume und
Wohnungen wie integriert wurde.
In erster Blick
über die Bauumzäunung lässt zumindest Gute erahnen:
Die hölzernen Schaufensterrahmen
und die riesige Haustür wurden sandgestrahlt und sind erhalten bleiben.
Sie und auch die Fassade sind de facto unverändert und haben das typische
Weitlaner-Blau (wieder-)erhalten. Auch eine originalgetreue Nachbildung des
Original-Schildes ziert inzwischen wieder das Gebäude. Und die Absichten und
Vorhaben der neuen Eigentümer klingen Medienberichten zufolge auch sehr vielversprechend.
Manches von dem
hätte zum Wohle der Eigentümer, der Stadt und vor allem der vielen so ein
Kleinod schätzenden Kaffeehausbesucher schon vor Jahrzehnten realisiert werden
können, wäre Tante Lina ein wenig aufgeschlossener gewesen - Interessenten am
Gelände und dessen kulinarischer Nutzung gab es seit jeher sehr viele. Aber es
war eben nicht das Ihre - und das muss man akzeptieren.
Seit einigen
Wochen wird auch mein Glaube daran, dass das Universum durchaus schwarzen Humor
hat, etwas gefestigt: In das unmittelbar angrenzende Geschäftslokal, früher
Heimat eines Versicherungsbüros und später eines Maklerbüros ist ein anderes
Lokal eingezogen: Und zwar ein Kebab-Lokal. Tante Lina rotiert sicher im Grab.
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